Referat von René Lechleiter an der Vernissage vom 31. Oktober 2003

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Werte Kolleginnen und Kollegen

Es freut mich ausserordentlich, dass hier zum Auftakt des Tages der Typografie diese wunderbare Buchpublikation über die OSPAAL-Plakate vorgelegt werden kann. Es ist auch kohärent, dass mit dem comedia-Verlag sich eine Organisation unserem Projekt angenommen hat, die selber in der aktiven Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit steht, sich für bessere Lohn-, Arbeits- und Lebensbedingungen einsetzt. Damit ist sie ganz nah am Thema. Dieses Buch hat sehr viel mit grafischer Gestaltung, mit Typografie, mit modernster Drucktechnik zu tun, aber auch mit Journalismus und Solidarität – also alles Gebiete, in denen comedia als kämpferische Mediengewerkschaft tätig ist.

Denn die Plakatgrafik, die dieses Buch vermittelt, berichtet in erster Linie vom Kampf. Genauer: Vom bewaffneten Kampf, den die Völker des Trikont zu führen sich immer wieder gezwungen sahen. Vis-à-vis kolonialer und neokolonialer Unterdrückung gab und gibt es für sie oft keinen anderen Ausweg, auch daran ist zu erinnern.

Für uns – die wir als aktiver Teil der internationalen Solidaritätsbewegung hier in Europa nach 1968 und vor allem in den 70er Jahren mit diesen Plakaten konfrontiert worden sind – ist es kein Zufall, dass wir dieses Projekt jetzt hier in der Schweiz realisiert haben. Uns war es sowohl möglich, für diese Bewegungen einzustehen, Gegenöffentlichkeit herzustellen oder Unterstützungsgelder zu sammeln, und uns gleichzeitig mit deren Inhalten auseinanderzusetzen sowie deren Erzeugnisse zu sammeln. Diese faszinieren uns oft durch die hohe Sinnlichkeit, oder, wie es Bruno Margadant ausdrückt, durch die Schönheit des Widerstandes.

Es ist kein Zufall, dass diese Plakate in Kuba entstanden sind. Nur in diesem Drittweltland, das sich vor über 40 Jahre dem Einflussbereich der Hegemonialmacht USA entzogen hat, konnte derart konsequent und kontinuierlich mit und für andere Bewegungen im Trikont gearbeitet werden. Mit Ärzten, mit Lehrern, mit Plakaten. Man muss den Gestaltern einmal zuhören, wie sie sich als Teil eines konkreten Prozesses verstehen, sich mit den Repräsentanten der verschiedenen Befreiungsbewegungen und deren Situation auseinandersetzen und so punkto Inhalt und Form bestechende Resultate vorlegen. Auch darin liegt die politische Bedeutung der OSPAAAL-Plakate.

Unser Anliegen ist es, all diese Materialien und Fakten in den Rahmen einer Strategie wider das Vergessen zu stellen.

Der Vergessenheit entrissen sind vorerst 340 Plakate, welche die OSPAAAL in Zusammenarbeit mit und in Unterstützung für bewaffnete Befreiungsbewegungen im Verlaufe der vergangenen 37 Jahren herausgegeben hat. Sie liegen jetzt erstmals in einer vollständigen Dokumentation vor.

Gleichzeitig wird mit den Plakaten das Wirken der Solidaritätsorganisation OSPAAL und ihrer Zeitschrift TRIcontinental gewürdigt, welche den hervorragendsten Analytikern und Kämpfern der Bewegungen im Trikont eine eigene Stimme gegeben und eine Verbreitung über viele Grenzen hinweg ermöglicht hat.

Erstmals bekommen in diesem Buch sodann die Plakate eine Urheberschaft: Die Namen der Plakatgestalter sind recherchiert und zugeordnet.

Zentral bleibt jedoch: Je tiefer man eintaucht in die Bilder, desto tiefer ist man konfrontiert mit der jüngeren Geschichte, mit all ihrer Kontinuität und ihren Brüchen. Wir laden ein zu einer alternativen Auseinandersetzung mit dem, was da war, woher wir kommen, wohin wir gehen.

Das heisst: Obschon die Plakate eine Sprache sprechen, die überall verstanden wird, war uns von allem Anfang an klar, dass wir diese nicht losgelöst von den politischen, sozialen und historischen Zusammenhängen reproduzieren wollen. Es ging uns bewusst darum, über die Publikation der attraktiven AgitProp-Poster die Geschichte sowohl den Protagonisten, als auch einer jüngeren Generation von Aktivisten in Wort und Bild zurückzugeben.

Im Bildteil des Buches versuche ich daher mit den Hintergrundtexten offenzulegen, aus welcher Vergangenheit die heutige Gegenwart erwachsen ist. Die offizielle Geschichte ist ja immer die Geschichte der Herrschenden – hier sollen für einmal diejenigen im Vordergrund stehen, die die Geschichte tatsächlich machen: Die um ihre Selbstbestimmung, um den eigenen Entwicklungsweg, für soziale Veränderungen kämpfenden Menschen in den Ländern des Trikont.

Dabei geht es in den Texten nicht darum, mit dem besseren Wissen von heute und von einer eurozentristischen Warte aus einzelne Ereignisse zu kommentieren. Ziel war es vielmehr, geschichtliche, politische und soziale Hintergründe, vor denen die Plakate entstanden sind, zu erhellen oder wieder in Erinnerung zu rufen.

Somit ist das Buch Hommage und Zeitspiegel zugleich. Da tauchen Gesichter und Namen auf, welche von den grossen Medien längst zu «Unpersonen» gestempelt und in die Versenkung geschickt worden sind. Wer kennt und beschäftigt sich denn noch mit Persönlichkeit und Werk eines Afrikaners wie Amilcar Cabral, eines Lateinamerikaners wie Rodney Arismendy oder eines Asiaten wie Nguyen Tray? Um nicht zu reden von Franz Fanon, der mit seinem Buch «Die Verdammten dieser Erde» ein Schlüsselwerk zum Verständnis der Sitation in Nordafrika geliefert hat.

In den Plakaten und mit den Textbeiträgen werden auch viele, von uns weitgehend wieder vergessene Daten aufgeschlüsselt. Diese sind im Anhang nochmals übersichtlich und in Stichworten erklärt. Einfach um zu verhindern, dass künftige Generation fragen müssen: Guinea-Bissau? Was ist das? War da was?

Denn so funktionieren unsere Medien. Zuerst war es der Fall der Mauer, der das «Ende der Geschichte» markieren sollte, dann war es ein gewisser 11. September, vor oder nach dem die Welt nicht mehr dieselbe sein soll. Dies stellt sich allerdings nur aus einer einzigen, sehr engen Perspektive so dar. Einer Perspektive mit der bewusst vergessen gemacht werden soll, dass es vor 30 Jahren schon einmal einen 11. September gab, der sich sehr viel tiefer in die Erinnerung der Menschen eingegraben hat. Und je genauer man hinschaut, entdeckt man ganz viele Ereignisse in der Geschichte, an denen wie am 11. September 1973 in Chile die grosse Hoffnung auf grundlegende gesellschaftspolitische Veränderungen brutal abgewürgt wurde.

Da gälte es, an Dutzende von wichtigen Jahrestagen zu erinnern, hier seien lediglich zwei «runde», aber seltsamerweise vergessengegangene erwähnt, an einen 13. August, vor 50 Jahren im Iran, an dem der CIA die Regierung unter Ministerpräsident Mossadegh wegputschte, um mit der Errichtung des Schah-Regimes und zusammen mit der Geheimpolizei Savak die Nationalisierung des Erdöls zu verhindern.

Oder jener Tag vor fast genau 20 Jahren, ein 25. Oktober, an dem die USA mit gewaltiger militärischer Übermacht eine Insel in der Karibik überfielen, Grenada, deren Territorium hundertmal kleiner ist als die Schweiz und die hauptsächlich Muskatnüsse exportiert, aber deren Politik des New Jewel Mouvement zu einer Gefahr für die nationale Sicherheit der USA hochstilisiert wurde.

Schliesslich ist es interessant zu sehen, wie sich die Schwergewichte der Plakatinhalte entsprechend den politischen Entwicklungen in Bewegung halten. Die Plakate jüngeren Datums drehen sich um Themen wie der Widerstand gegen die Verschuldungspolitik, die Rolle des Internationalen Währungsfonds (IWF) oder gegen die kontinentale Freihandelszone ALCA. Sie widmen sich also gemeinsamen, weltumspannenenden Problemkreisen. Plötzlich haben wir die Dritte-Welt-Problematik im eigenen Land. Denn die Notwendigkeit des Kampfes gegen die Privatisierungen im Bildungs-, Erziehungs und Gesundheitsbereich, der Kampf um die Aneignung der Naturreichtümer, gegen den Neoliberalismus und die Globalisierung stellt sich grundsätzlich gesehen überall gleich – längst auch hier in der hochindustrialisierten Welt.

Wer unsere Geschichte wider das Vergessen aufmerksam studiert, dem wird klar, dass sich mit der Globalisierung und dem Neoliberalismus nicht einfach die Kräfte des Marktes durchgesetzt haben, wie immer behauptet wird, sondern eine bestimmte Vorstellung von Markt hat sich all seiner Kräfte bedient, um sich gegen abweichende, sprich sozialere Bestrebungen durchzusetzen.

So hat für mich die Globalisierung ihre Wurzeln in der bereits 1823 von den Vereinigten Staaten verkündeten Monroe-Doktrin; dem neoliberalen Modell musste mit Feuer und Schwert zum Durchbruch verholfen werden. Konkret: Um das, was die Chicago Boys unter Milton Friedman ausgeheckt hatten, auch durchsetzen zu können, mussten in einem Schwellenland wie Chile zuerst all die starken Organisationen der Arbeiterschaft, zerschlagen werden. Das chilenische «Experiment» eines friedlichen Wegs zum Sozialismus ist nicht einfach gescheitert, es wurde gezielt und unter Einsatz sämtlicher Mittel, auch der Waffengewalt, abgewürgt.

Genau so wie mit der 1964 in Brasilien erichteten Militärdiktatur, deren blutiger Feldzug weltweit in den Medien als «o milagro brasileno» gefeiert wurde. Die Fortsetzung wurde in Chile geprobt und in Argentinien verfeinert – bis zum Staatsbankrott. Es hatte niemand mehr, der sich echt getraute, sich dagegen zu wehren.

Mit diesem Buch soll der Mantel des Verschweigens all dieser Ereignisse und der brutalen Vorgehensweisen gegen die Kräfte der sozialen und politischen Fortschritts durchlöchert werden. Wir wollen uns verneigen vor all denen, die ihr Bestes gegeben haben, ihre Liebe, ihren Veränderungswillen, ihren Intellekt, ihre künstlerische Schaffenskraft – und oft, sehr oft ihr Leben. Ganze Legionen junger, fähigster Menschen wurden in diesen Unterdrückungsfeldzügen hingerafft – sie alle fehlten in der Folge beim nationalen Aufbau.

Dies gilt sowohl für ungezählte und unbekannt gebliebenen Aktivistinnen, als auch für viele brilliante und führende Köpfe der Bewegungen. Was für eine Zündkraft in den Ideen des Widerstands und der Veränderung zum Besseren steckt, zeigt sich daran, dass selbst von den toten Führungspersönlichkeiten noch eine solche Wirkung ausgeht, dass ihre Leichen nach der Ermordung oftmals auch noch zerstückelt und an unbekannten Orten verscharrt werden, um eine posthume Leitfunktion zu verhindern – so wie dies bei Patrice Lumumba, Ché Guevara und Maurice Bischop, aber auch bei Victor Jara und vielen anderen der Fall war.

Auf der anderen Seite steht die Tatsache, dass die meisten der grauslichen Gorillas und Diktatoren, die es unter grosser Opferbereitschaft zuerst zu beseitigen galt, jeweils bis zuletzt und mit aller Macht von den USA gestützt wurden und dann, meistens unangetastet, bis ins hohe Alter und ohne finanzielle Sorgen im Exil von ihren Vasallenlöhnen und Korruptionsgeldern leben konnten: Tschiang-kai Schek, Batista, Stroessner, um nur drei Beispiele zu nennen.

Zwangsläufig werden in diesem Buch die US-Interventionen zu einem zentralen Schwerpunkt:

Solche Fakten gilt es zu kennen, wenn über den bewaffneten Kampf der Völker geurteilt wird.

Und: jeder und jede muss sich entscheiden, auf welche Seite er bzw. sie sich selber stellen will.

René Lechleiter